Ende Mai ist Günther Jäger, der als Diakon im Pfarrverband Feichten tätig ist, nach Lesbos aufgebrochen. Doch ein Urlaub ist es nicht – er arbeitet als Flüchtlingshelfer und blickt dort täglich in die Abgründe der Menschheit. Ein Beitrag von Christine Limmer.
Für den 65-jährigen war es ein Bedürfnis an die Ränder zu gehen, wie es Papst Franziskus gefordert hat. Täglich sitzt er nun im sonnigen Griechenland. Ein Ort, der viele Europäer für den wohlverdienten Urlaub anlockt. Er blickt jedoch hinter die Kulissen von Erholung, Baden im Meer und Sightseeing.
Täglich fährt er ins Lager Kara Tepe 2 (RIC Lesvos), nahe dem Lager Moria, welches durch einen Brand zerstört wurde. In dem provisorischen Lager leben etwa 7500 Menschen, darunter 2500 Kinder.
„Die Lage ist desaströs“, so Günther Jäger. „Die Blicke der Menschen, der Mütter, Väter und Kinder berühren mich sehr. Sie schauen uns hilfesuchend an. Doch wir können nicht allen helfen, sondern müssen uns auf die beschränken, die die Hilfe am meisten benötigen. Das sind die neu angekommenen Flüchtlinge, welche die ersten zehn Tag im abgeschlossenen Quarantänebereich untergebracht sind. Dort sind scheinbar gesunde und diejenigen mit Covidverdacht“, berichtet Jäger.
Täglich ist er mehrere Stunden im Camp unterwegs, je nachdem was zu tun ist. „Manches glaubt man zu kennen, weil es im Fernsehen oder in anderen Medien schon gezeigt wurde. Doch es ist weit schlimmer. Der weitaus größte Teil der Flüchtlinge vegetiert in mehr oder weniger guten Zelten auf Sandboden zwischen Abwassergräben und staubigen, teils engen Wegen. Alles ist eng auf eng und vielfach in keinem guten Zustand. Der Müll und der Gestank aus den Kloaken ist teilweise grausam“, so seine Erlebnisse.
In diesem Abgrund tätig zu sein, bringe ihn täglich vor neue Herausforderungen. „Hier macht jeder alles. Essen vorbereiten, die nötigen Zutaten herrichten, Essensportionen in die Schalen abfüllen, verschließen und in die Thermoboxen verstauen. Insgesamt werden bis zu 1200 Mahlzeiten für die Flüchtlinge bereitgestellt und etwa 100 Mahlzeiten für Menschen außerhalb des Camps. Ich fahre nahezu täglich vormittags die ‚Außentour’. Ich bin mit einem kleinen Auto durch die engen Gassen von Mytiline unterwegs, um Bedürftige außerhalb des Camps mit einer warmen Mahlzeit und sonstigen Hilfsmitteln wie Seife oder Duschgel zu versorgen. Auch eine Kirche ist dabei, die täglich 20 Portionen warmes Essen von uns bekommt und an die dortigen armen Einheimischen verteilt. Diese Kirchengemeinde lehnt Flüchtlinge ab. Ich bringe Essen auch ins Abschiebegefängnis und in zwei Behinderteneinrichtungen, die vom Staat und der Gemeinde nicht unterstützt werden.“
Für die Flüchtlinge ist die Lage nicht einfach: Über 30 Grad, die Sonne brennt, die Zelte bestehen aus Planen, unter denen die Hitze unerträglich ist. Die Wasserversorgung erfolgt über große Schlauchtanks an einer Stelle des Camps und kleineren Verteilstationen für Trink- und Brauchwasser. Hunderte Dixitoiletten stehen in großen Abteilungen zusammen. In den Abschiebegefängnissen sei es eng und stickig, je nach Belegung, so berichtet Jäger.
Einkaufen ist für die Flüchtlinge kaum möglich. Ihnen stellt die griechische Regierung 70 Euro pro Monat zur Verfügung. Kinder bekommen kein Geld. Zum Vergleich: Ein Stangenbrot kostet in Griechenland 1,20 Euro. Im Abschiebegefängnis bekommen die Menschen noch weniger und müssen ihr Essen von ihren korrupten Bewachern erkaufen, so hat es Günther Jäger erfahren. In Deutschland ist die soziale Unterstützung für Flüchtlinge nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt und sieht einen Regelsatz von 357 Euro im Monat pro Person vor, sofern man in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht ist. Das sind rund 70 Euro weniger als der Hartz IV-Satz.
Im Lager auf Lesbos finden sich aber auch Lichtblicke, die dem Diakon Kraft, Energie, Zuversicht und Mut geben, weiterzumachen. „Ein besonders schönes Erlebnis war es für mich, als ich einer alleinstehenden jungen Mutter mit drei Kindern einen Kinderwagen bringen konnte, den sie so dringend brauchte. Wir haben nicht viele davon in unserem Lager und gehen sehr sorgsam damit um, wie mit allen Spenden, die wir hier verwalten. Aber hier war echte Hilfe nötig. Die freudestrahlenden Augen der Mutter zu sehen, war ein zu Herzen gehender Moment für mich – schon weil ich selbst bald wieder Opa werde.“ Vor kurzem feierten einige Afrikaner einen kleinen Gottesdienst, berichtet der Diakon. Da sei er kurz hingegangen, um das Geschehen am Rande mitzuverfolgen.
„Es hat mich sehr berührt, wie intensiv gebetet, gepredigt und gesungen wurde. Ebenfalls ein sehr schönes Erlebnis.”
Jäger hadert damit, dass die griechisch-orthodoxe Kirche keinerlei Unterstützung für die Flüchtlinge leistet. Gerade das Gegenteil sei der Fall. „Die orthodoxe Kirche hier will die Flüchtlinge weg haben und verurteilt jede Hilfe. Man feiert hier täglich Gottesdienste, bekreuzigt sich hundert Mal, küsst die Ikonen, betet zu Gott und ist zugleich ein großer Gegner der Flüchtlinge und deren Helfer. Wie passt denn das zusammen? Für mich hat das mit Kirche und Glauben nichts mehr zu tun. Ich kenne mittlerweilen einige Einheimische, die aus diesem Grund mit ihrer Kirche hier nichts mehr zu tun haben wollen.“ Die Organisationen vor Ort stellen alle zwei Wochen für die Neuankömmlinge ein Starterpaket zusammen. Im Sommerpaket sind für eine Person eine Hose, ein Langarm- und ein Kurzarmshirt, ein Pulli, zwei Paar Socken, ein Paar Schuhe, eine Decke, ein Handtuch, ein Hygienekit mit Zahnbürste, Zahnpasta, Duschgel und Hygieneprodukten für Frauen, sowie Schutzmasken enthalten.
Ein weiteres schockierendes Erlebnis sei es gewesen, als er mit Kollegen nach der täglichen Arbeit nach Molyvos an die engste Stelle zwischen Lesbos und der Türkei gefahren ist. An einem versteckten Ort, schlecht über Feldwege zu erreichen, ist eine Deponie mit abertausende von Schwimmwesten, zerfetzten Schlauchbooten und sonstigen Schwimmhilfsmitteln. Viele erreichten die vermeintliche Freiheit – viele jedoch auch nicht. Manchmal wird hier alles angezündet. Es kommt ja immer wieder was dazu. Hier zu stehen, das muss man aushalten. Da wird man still und schluckt. Ich versuchte still zu beten, doch das gelang mir an diesem Tag nicht, weil hinter jeder Schwimmweste ein Schicksal eines Menschen steht“, so Jäger tief ergriffen.
„Ich steh vor einer kleinen gelben Schwimmweste, die wohl ein Kind getragen hat. Auf der steht auch in deutscher Sprache: ‚WARNUNG: Kein Schutz gegen Ertrinken. Für Kinder nur unter ständiger Aufsicht benutzen.’ Solche Westen werden den Flüchtligen oft sehr überteuert verkauft. Viele davon sind primitive Fälschungen und sind alles andere als sicher. Skrupellose Schlepper machen hier dreckiges Geld mit der Not der Flüchtlinge, die nur eines wollen: überleben. Ich steh einfach da. Die Sonne brennt auf die roten und gelben Westen und die dazwischen liegenden schwarzen zerfetzten Schlauchboote – ein makabrer Anblick. Es riecht merkwürdig — ich kann‘s nicht beschreiben. Täglich patroullieren hier Küstenwache und Frontexschiffe samt Helicopter mit Wärmebildkameras und Drohnen. Wenn Flüchtlinge geortet werden, werden sie oft in türkische Gewässer zurückgeschleppt, so haben es die einheimischen Fischer berichtet. Mein Herz klopft und ich spüre, wie die Augen feucht werden. Ganz tief in mir regt sich die Frage: ‚Warum nur Gott, warum nur lässt du das zu…’ ”
Trotz allem hat es Jäger noch keine Sekunde bereut, dorthin gefahren zu sein. „Es gibt für mich keine schönere Aufgabe als hier dabei zu sein und zusammen mit einem großartigen Team alles zu versuchen, Menschen hier zu helfen. Manchmal sitzen wir dann nach der Arbeit zusammen, trinken ein Bier und unterhalten uns über das gemeinsam Erlebte.” Den Kopf für den nächsten Tag bekommt er mit etwas Sport oder langen Spaziergängen frei. Die Laudes, die Vesper und die Komplet, ein stilles Gespräch mit Gott unterwegs und das tägliche Telefonat mit seiner Frau Uschi am Abend helfen zudem enorm, berichtet er.
Text: Christine Limmer
Bilder: privat