
Die katholische Sexuallehre weicht von der gelebten Realität der Menschen stark ab. Was sagt eigentlich die Bibel zu Fragen der sexuellen Identität und der sexuellen Orientierung? Über den aktuellen Forschungsstand informierte der Moraltheologe Bernhard Bleyer bei der Vollversammlung des Diözesanrats der Katholiken im Bistum Passau.
„Wir erwarten von euch nichts mehr!“ Dieser Satz von schwulen und lesbischen Freunden und Bekannten musste sich Hans-Peter Eggerl mehr als einmal anhören. Mit „euch“ sind Mitarbeiter der katholischen Kirche gemeint, Menschen wie er. Dieser Satz schmerzt und macht deutlich, wie groß die Kluft zwischen der Kirche und den Menschen ist, die sich unter dem Begriff „Queer“ finden, also lesbische, schwule, bigeschlechtliche, transgeschlechtliche oder intergeschlechtliche Menschen. Und dieser Satz macht auch deutlich, wie wichtig und überfällig Eggerls Aufgabe ist: Er ist der erste Queer-Seelsorger im Bistum Passau und einer der ersten in Bayern, der mit einem ganzen Jahresprogramm aufwarten kann. Was er macht, wie (überlebens)wichtig die Geschlechtsidentität für die Entwicklung eines Menschen ist, was die Begriffe bedeuten – all das erläuterte er bei der Vollversammlung des Diözesanrats im Haus der Begegnung Heilig Geist in Burghausen.

„Katholische Sexualethik im Umbruch!?“ war der Studienteil bei der Tagung überschrieben, an der am ersten Tag auch Bischof Stefan Oster und Generalvikar Josef Ederer teilnahmen. Worum es geht, machte Diözesanratsvorsitzender Markus Biber bereits in der Einladung deutlich: Die katholische Sexualethik weiche seit geraumer Zeit so weit von der gelebten Realität insbesondere junger Menschen ab, dass kaum jemand sich damit befasst oder diese lebt. Auch Fragen zur geschlechtlichen Identität oder zur sexuellen Orientierung könnten damit nur noch schwerlich beantwortet werden.
Einer freilich hatte Antworten: Bernhard Bleyer, Inhaber des Lehrstuhls Theologische Ethik an der Universität Passau, machte in zwei spannenden Vorträgen deutlich, wo die Moraltheologie bei den Themen geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung steht. Dabei ging er vom Lehramt aus und erklärte, wie die Forschung heute den Kern des Schöpfungsberichts (Gen 1,27) und alle weiteren relevanten Bibelstellen einordnet. „Wir müssen uns darum bemühen, die biblischen Texte zu verstehen, das ist zentral für die Theologie“, betonte er.
Dabei sei die Theologie immer auf den Dialog mit den Wissenschaften angewiesen. „Wir können keine Anthropologie gegen naturwissenschaftliche Fakten entwickeln.“ Bleyers Fazit beim Thema Geschlechteridentität: Es gibt männlich und weiblich und es gibt Übergänge und Formen, die sich nicht der Zweigeschlechtlichkeit zuordnen lassen. Welche Fragen sich dadurch für Theologie (etwa für die Priesterweihe) und die Pastoral ergeben, stehe auf einem ganz anderen Blatt. Darauf gebe es keine einfachen Antworten. „Man muss der Theologie einen Lernprozess zugestehen. Ich weiß nicht, was das alles für die Zukunft heißt, aber ich weiß, dass wir es nicht negieren dürfen“, so Bleyer.
Auch im zweiten Impulsvortrag „Liebe und tu was Du willst – wirklich? Was meint sexuelle Orientierung?“ erläuterte der Passauer Moraltheologe zunächst die Position des Lehramts, in dem Fall vor allem die Erklärung Persona humana der Kongregation für die Glaubenslehre aus dem Jahr 1975 und den Katechismus der katholischen Kirche. Zentrale Frage: Geben die Bibelstellen nach dem heutigen Stand der Forschung her, was da drin steht?
Die altorientalische Welt und auch die griechisch-römische Antike kennen weder dem „Begriff noch der Sache nach Homosexualität als Sexualität und Identität integrierendes Persönlichkeitskonzept“, zitiert Bleyer Thomas Hieke. Der homosexuelle Geschlechtsakt zwischen Frauen werde in der Bibel nirgends eindeutig thematisiert. In den Evangelien gebe es keine Stelle, die sich mit der moralischen Bewertung von Homosexualität auseinandersetzt. Bleyers Fazit: Die vom Lehramt angeführte biblische Fundierung und der Verstoß gegen das natürliche Sittengesetz weisen „exegetische und logisch-argumentative Defizite auf“. Es gebe keine einzige Stelle, die rechtfertige, dass der Heilige Stuhl homosexuelle Handlungen verurteilt. Der biblische Befund sei hier „enorm robust“.
Mit dieser Analyse sei noch keine umfassende theologisch-ethische Bewertung der gleichgeschlechtlichen Lebensform erfolgt. Doch klar sei: Die homosexuelle Orientierung stelle eine Normvariante menschlicher Liebesfähigkeit dar. Und vor diesem Hintergrund sieht Bleyer auch „keinen theologischen Grund, homosexuelle Partnerschaften nicht zu segnen.“
Für ihn stellt sich auch die Frage, ob auf dem heutigen Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht das Verständnis von dem, was „natürlich“ ist, weiter gedacht werden muss als bisher und ob wirklich der Fortpflanzung die entscheidende moralische Bedeutung zukommen soll und nicht auch den anderen Sinndimensionen wie Beziehung, Lust und Identität.
Dass Bernhard Bleyer mit seinem Vortrag das Publikum erreicht hatte, belegten viele Wortmeldungen im Anschluss. Birgit Geier aus dem geschäftsführenden Vorstand machte deutlich, dass der Moraltheologe ihren Blick geweitet habe. Ein Priester erklärte, dass es auch in seinem Berufsstand wichtig wäre, über den aktuellen Forschungsstand informiert zu werden. Und auch Diözesanratsvorsitzender Markus Biber zog nach zwei intensiven Vollversammlungstagen ein durchwegs positives Fazit. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hätten viel erlebt und viel Neues erfahren. Die lehramtlichen Aussagen zur Geschlechteridentität seien nicht mehr haltbar, die Bewertung von Homosexualität nicht mehr auf dem wissenschaftlichen Stand der Zeit. Es gebe grundlegend wichtige Dinge, die in der katholischen Kirche angegangen werden müssen, so Biber. Auf die Frage, wie denn nun die Erkenntnisse der Theologie in die kirchliche Lehre einfließen könnten, musste allerdings auch Bernhard Bleyer mit einem Achselzucken antworten: „Ich weiß es nicht.“
Domdekan Hans Bauernfeind sprach deshalb wohl allen aus dem Herzen, als er nach zwei intensiven Tagen die Tagungsgäste mit dem Reisesegen verabschiedete: „Möge der Heilige Geist uns Mut machen und begleiten auf unserem Weg in die Zukunft.“
Text: Wolfgang Krinninger