Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst (JRS), ein Projektpartner des Kindermissionswerks ‚Die Sternsinger’, hilft, den Massenexodus aus Venezuela aufzufangen. Interview mit Oscar Calderon (35), Projektkoordinator des Flüchtlingsprogramms des JRS im kolumbianischen Bundesstaat Norte de Santander mit Sitz in Cúcuta.
Wie ist die Situation an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze?
Jeden Tag kommen laut der Regierung bis zu 50.000 Venezolaner über die Grenze, Durchreisende, Migranten oder Tagespendler. Das ist alleine zahlenmäßig gewaltig. Viele von ihnen sind krank, arm, unterernährt, haben keine Ausweis-Papiere und oft keine Ausbildung. Sie kommen in eine Region in Kolumbien, die stark von Gewalt im Bürgerkrieg gebeutelt wurde, und in der 40 Prozent Armut und 16 Prozent Arbeitslosigkeit herrschen. Das ist mehr als im Rest Kolumbiens. All das zusammen ergibt einen explosiven Cocktail, denn die Ärmsten in Kolumbien tragen einen Großteil der zusätzlichen Belastung durch die Migration. Das schürt Spannungen.
Wie arbeitet der JRS in diesem Kontext?
Wir konzentrieren uns auf die Allerschwächsten, also Indigenas, chronisch Kranke, Schwangere und Kinder sowie Obdachlose. Wir springen in einer zweiten Phase ein, also nach den ersten Wochen der Ankunft, um der Familie dabei zu helfen, sich neu zu orientieren. Viele mussten vor Repression fliehen und konnten fast nichts mitnehmen. Sie müssen hier komplett neu anfangen. Wir orientieren sie im Umgang mit Behörden, auf dem Arbeitsmarkt oder besorgen ihnen Übergangswohnungen. Manche Familien unterstützen wir auch mit Medikamenten und Nahrungsmitteln oder Haushaltsgeräten.
Können die Flüchtlinge sonst mit Unterstützung rechnen, beispielsweise durch den Staat?
Die staatliche Infrastruktur ist überhaupt nicht auf so einen Ansturm vorbereitet. Das Gesundheits- und das Bildungssystem waren schon vorher unterfinanziert. Der Staat hat daher nur sehr prekäre Antworten und stellt den Flüchtlingen haufenweise bürokratische Hindernisse in den Weg, etwa beim Schulbesuch der Kinder oder der Gesundheitsfürsorge und der Jobsuche. Für alles braucht man apostillierte Dokumente, und die sind praktisch nicht zu kriegen in Venezuela. Internationale Hilfsorganisationen und die Kirche sind besonders in der Nothilfe aktiv. Es gibt eine Notunterkunft für 130 Flüchtlinge und eine Suppenküche als erste Anlaufstellen. Auch die Bevölkerung ist solidarisch. Dabei hilft es, dass Venezuela und Kolumbien kulturell sehr ähnlich sind und viele Familien Verwandtschaft beiderseits der Grenze haben.
Was ist das Schwierigste für die Migranten?
Die Entwurzelung. Lebenspläne werden plötzlich zerstört, Karrieren unterbrochen. Wir haben hier Akademiker, die Taxi fahren, Ärzte, die Kinder betreuen und Mütter, die sich prostituieren. Selbstmorde haben zugenommen. Deshalb brauchen die Migranten oft auch psychologische Hilfe.
Vor welchen weiteren Herausforderungen steht der JRS sonst noch?
Die Wiedervereinigung von Familien ist mittelfristig ein großes Problem. Durch die Migration wurden viele Familien auseinandergerissen. Ein Elternteil ist in Peru mit einem Kind und versucht dort sein Glück. Einer ist hier mit einem zweiten, und weitere Kinder sind noch in Venezuela bei Verwandten geblieben.
Welche Bedeutung hat die Unterstützung der Sternsinger?
Dank der Hilfe der Sternsinger haben wir eine Strategie erstellt, die komplementär zum Staat ist. Derzeit unterstützen wir von dem Geld 23 besonders bedürftige Familien direkt. Mit juristischen Aktionen haben wir außerdem erreicht, dass der Staat sein Gesundheitssystem für Migranten öffnet. Das ist ein großer Schritt, denn die Nothilfe funktioniert nicht ewig, und der Staat muss mittelfristig die Verantwortung für die Integration übernehmen.
Quelle: PM “Die Sternsinger” (Das Interview führte Sandra Weiss.)