Der Diözesanrat vertieft am zweiten Tag seiner diesjährigen Herbst-Vollversammlung das brennende Thema Armut u.a. durch einen Vortrag von Armutsforscher Prof. Butterwegge, der für einen inklusiven Sozialstaat plädiert.
Als „strukturelles Problem unserer Gesellschaft“ brandmarkt der renommierte Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge das Phänomen der Armut im Wohlfahrtsstaat Deutschland. Bei der gemeinsamen Tagung des Diözesanrats der Katholiken im Bistum Passau und der evangelisch-lutherischen Dekanatssynode am Wochenende im Spectrum Kirche in Passau-Mariahilf warnte der Politikwissenschaftler aus Köln davor, dass sich Armut normalisiere. Sie sei kein individuelles Schicksal, sondern das Resultat einer extremen Ungleichheit, vor allem bedingt durch die Deregulierung des Arbeitsmarktes mit Liberalisierung von Leiharbeit und Einführung sogenannter prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Der Referent plädierte für einen „inklusiven Sozialstaat“.
Einleitend hatte der Diözesanratsvorsitzende Markus Biber an die abendliche Exkursion zur Vertiefung der Problematik von Armut in einer doch reichen Gesellschaft im ersten Studienteil am Freitag erinnert, wo die Teilnehmer die Bahnhofsmission, die Passauer Tafel, die Obdachlosenherberge, die Suppenküche, die Schuldnerberatung und die Agentur für Arbeit aufsuchten. Es sei ein sehr guter Auftakt gewesen, um sich den Ursachen von Armut anzunähern, so Biber, ehe eine Video-Einspielung kurz und anonym obdachlos gewordene Mitmenschen porträtierte, die inzwischen „Stammkunden“ der Bahnhofsmission seien. Für viele sei dies ein Bereich, mit dem man kaum in Berührung komme, räumte Dr. Matthias Haun von der evangelisch-lutherischen Dekanatssynode ein.
Den Organisatoren der Tagung machte Prof. Butterwegge ein großes Kompliment für diesen praktischen Einstieg – „eine wirklich tolle Idee“, sich dorthin zu begeben, „wo die Armen sind“, so der Gastreferent, der sich nach eigenen Worten in erster Linie sehr stark mit dem Thema Kinderarmut beschäftigt hat, die immer mehr zunehme. Unterschieden werde zwischen absoluter und relativer Armut, wobei die erstgenannte Variante fälschlicherweise meist im hungernden Süden angesiedelt werde. Aufmerksam machte der pensionierte Hochschullehrer auf den 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, an dem er selbst mitgewirkt hat, und bemängelte, dass in Deutschland keine Statistiken darüber existierten, wie viele Obdachlose und wie viele Reiche es gebe.
Butterwegges düstere Prognose: „Die relative Armut wird bei uns mehr umschlagen in die absolute Armut“, vor allem verursacht durch horrende Mietsteigerungen, die vorrangig ältere Menschen treffe. Als Beispiel für Altersarmut beschrieb er eine alte Frau aus München, die abends in ihrer Wohnung im Dunkeln sitze, um Strom zu sparen, und nur mit einem Glas warmer Milch in der Hand, weil ihre Mutter einmal gesagt habe, dank warmer Milch spüre man den Hunger nicht. Und das in einer Stadt, wo mitunter Personen lebten, die zu den reichsten Deutschen gehören, ergänzte der Professor. Er kritisierte die Scheu in der Politik vor dem Begriff „Einkommensarmut“ und sprach von einem ignoranten Umgang damit. Durch das Zusammenballen von Milliarden-Vermögen auf einzelne Menschen fehle Geld an vielen Ecken und Enden, und die Ungleichheit wachse immer mehr. Als eine Wurzel des Übels machte der Professor die prekäre Bezahlung von Arbeit durch Unternehmer aus. „Niedrige Löhne sind gleichbedeutend mit hohem Gewinn“, unterstrich Butterwegge, der auch Kampagnen wie die Riester-Rente in Frage stellte, weil sich diese Form der privaten Altersvorsorge kaum jemand leisten könne. Auch die Börsenrente, wie er die aktuellen Pläne von Finanzminister Christian Lindner nannte, sei keine brauchbare Altersversorgung.
Bundeskanzler Willy Brandt in den 1970er-Jahren sei noch „ein wirklicher Sozialdemokrat“ gewesen, flocht der Referent ein und gab zu bedenken, dass es heutzutage in vielen anderen Ländern ein höheres Rentenniveau gebe als in der Bundesrepublik. „Wir können längst nicht mehr stolz sein auf den deutschen Sozialstaat“, sagte Butterwegge in seinem rund 45-minütigen Vortrag.
Zur Änderung dieses Zustands empfahl der Gastredner unter anderem die Abkehr von einer Steuerpolitik, die beispielsweise durch denselben Mehrwertsteuersatz für alle Zahlungspflichtigen am meisten die Reichen begünstige, was zu einer Spaltung der Gesellschaft durch materielle Ungleichheit führe. Vor diesem Hintergrund wundere ihn der Stimmenzuwachs der AfD nicht, die sich freilich die „Partei der kleinen Leute“ nenne, in Wirklichkeit aber die „Partei des großen Geldes“ sei. Stark machte sich Butterwegge für eine Rückkehr der Unternehmen zur Tarifbindung, aber auch für ein Verbot von Leiharbeit. Man müsse „den Sozialstaat so ausbauen, dass alle mit einbezogen sind“, hob er hervor und verteufelte zugleich die fehlende Einhebung von Vermögenssteuer, obwohl diese immer noch existent sei. Kein einziges Unternehmen in Deutschland sei wegen der Entrichtung der Erbschaftssteuer insolvent geworden, merkte der Armutsforscher ergänzend an. Sein Fazit: „Wer Armut wirksam bekämpfen will, der muss den Reichtum antasten.“
Zu Beginn der Diskussion führte die KAB-Diözesanvorsitzende Angelika Görmiller ebenso den Aspekt Armut als Mangel an sozialer Teilhabe ins Feld. Prof. Butterwegge stellte fest, Reichtum an sich als nichts Verwerfliches zu werten, aber ihn als problematisch zu empfinden, wenn sich gleichzeitig Armut immer mehr ausbreite. Als kritisch stufte er ein, dass das Adjektiv im Begriff der Sozialen Marktwirtschaft nicht wirklich ernst genommen werde. „Ich will eine Gesellschaft haben, in der andere nicht Not leiden oder ausgegrenzt werden, eine Gesellschaft ohne Neid und Missgunst“, formulierte der Professor als seinen Zukunftswunsch, einhergehend mit einer besser entwickelten Sozial‑, Bildungs- und Betreuungsstruktur. „Und dafür braucht es Geld“, konstatierte Butterwegge, der den Medien vorwarf, Reichtum zu verschleiern und nicht kritisch darüber zu berichten. Zugleich hielt der Referent, der der Partei Die Linke nahesteht und sich für sie 2017 um das Amt des Bundespräsidenten beworben hat, ein Plädoyer „für mehr Abrüstung statt des ständigen Wettrüstens“.
Bemerkenswert waren die Thesen aus den Schreibgesprächen an Stellwänden. Dort stand unter anderem geschrieben, dass die Kirche in Fragen zur Armut „lauter auftreten“ müsse, außerdem der Appell, sich in der gesellschaftlichen Debatte stärker für die Armen einzusetzen, den Markus Biber in seinem Schlusswort teilte. Man müsse politisch und gesellschaftlich mehr aktiv werden, als Christ vermehrt Anstoß zu einer positiven Veränderung geben – mit dem in der Andacht am Freitagabend formulierten Ziel „Leave noone behind.“ Dekan Jochen Wilde bedankte sich für die Gastfreundschaft des Diözesanrates bei der Veranstaltung im Spectrum Kirche. „Wir stehen vor einem kirchlichen Kulturwandel“, prognostizierte er und skizzierte es als das Ziel, eine partnerschaftliche Kirche zu formen, die den Menschen in Lebens- und Glaubensfragen unterstützend zur Seite stehe.
Text+Fotos: Bernhard Brunner
Erster Tag der Herbst-Vollversammlung
Zum Auftakt seiner Herbst-Vollversammlung besuchte die Gremienmitglieder des Diözesanrats tags zuvor am 11. Oktober gezielt verschiedene Dienste in Passau, wo Mitarbeitende von ihrer Arbeit mit Betroffenen berichteten — u.a. die Bahnhofsmission, die Passauer Tafel und die Obdachlosen-Herberge im Konradinum der Caritas. Einen ausführlichen Bericht mit Impressionen finden Sie hier: