Bistum

Armut ist ein strukturelles Problem der Gesellschaft

Redaktion am 12.10.2024

Bp Dioezesanrat 02 Foto: Bernhard Brunner
Zufrieden mit dem Verlauf der gemeinsamen Tagung von Diözesanrat und Dekanatssynode zeigten sich v.l. Dr. Peter Seidl, Birgit Geier, Markus Biber, Angelika Görmiller, der Armutsforscher Prof. Dr. Christoph Butterwegge, Dr. Claudia Stadelmann-Laski, Dekan Jochen Wilde, Michael Bruns und Dr. Matthias Haun.

Der Diözesanrat vertieft am zweiten Tag seiner diesjährigen Herbst-Vollversammlung das brennende Thema Armut u.a. durch einen Vortrag von Armutsforscher Prof. Butterwegge, der für einen inklusiven Sozialstaat plädiert.

Als struk­tu­rel­les Pro­blem unse­rer Gesell­schaft“ brand­markt der renom­mier­te Armuts­for­scher Prof. Dr. Chris­toph But­ter­weg­ge das Phä­no­men der Armut im Wohl­fahrts­staat Deutsch­land. Bei der gemein­sa­men Tagung des Diö­ze­san­rats der Katho­li­ken im Bis­tum Pas­sau und der evan­ge­lisch-luthe­ri­schen Deka­nats­syn­ode am Wochen­en­de im Spec­trum Kir­che in Pas­sau-Maria­hilf warn­te der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler aus Köln davor, dass sich Armut nor­ma­li­sie­re. Sie sei kein indi­vi­du­el­les Schick­sal, son­dern das Resul­tat einer extre­men Ungleich­heit, vor allem bedingt durch die Dere­gu­lie­rung des Arbeits­mark­tes mit Libe­ra­li­sie­rung von Leih­ar­beit und Ein­füh­rung soge­nann­ter pre­kä­rer Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nis­se. Der Refe­rent plä­dier­te für einen inklu­si­ven Sozialstaat“.

Ein­lei­tend hat­te der Diö­ze­san­rats­vor­sit­zen­de Mar­kus Biber an die abend­li­che Exkur­si­on zur Ver­tie­fung der Pro­ble­ma­tik von Armut in einer doch rei­chen Gesell­schaft im ers­ten Stu­di­en­teil am Frei­tag erin­nert, wo die Teil­neh­mer die Bahn­hofs­mis­si­on, die Pas­sau­er Tafel, die Obdach­lo­sen­her­ber­ge, die Sup­pen­kü­che, die Schuld­ner­be­ra­tung und die Agen­tur für Arbeit auf­such­ten. Es sei ein sehr guter Auf­takt gewe­sen, um sich den Ursa­chen von Armut anzu­nä­hern, so Biber, ehe eine Video-Ein­spie­lung kurz und anonym obdach­los gewor­de­ne Mit­men­schen por­trä­tier­te, die inzwi­schen Stamm­kun­den“ der Bahn­hofs­mis­si­on sei­en. Für vie­le sei dies ein Bereich, mit dem man kaum in Berüh­rung kom­me, räum­te Dr. Mat­thi­as Haun von der evan­ge­lisch-luthe­ri­schen Deka­nats­syn­ode ein.

Den Orga­ni­sa­to­ren der Tagung mach­te Prof. But­ter­weg­ge ein gro­ßes Kom­pli­ment für die­sen prak­ti­schen Ein­stieg – eine wirk­lich tol­le Idee“, sich dort­hin zu bege­ben, wo die Armen sind“, so der Gast­re­fe­rent, der sich nach eige­nen Wor­ten in ers­ter Linie sehr stark mit dem The­ma Kin­der­ar­mut beschäf­tigt hat, die immer mehr zuneh­me. Unter­schie­den wer­de zwi­schen abso­lu­ter und rela­ti­ver Armut, wobei die erst­ge­nann­te Vari­an­te fälsch­li­cher­wei­se meist im hun­gern­den Süden ange­sie­delt wer­de. Auf­merk­sam mach­te der pen­sio­nier­te Hoch­schul­leh­rer auf den 6. Armuts- und Reich­tums­be­richt der Bun­des­re­gie­rung, an dem er selbst mit­ge­wirkt hat, und bemän­gel­te, dass in Deutsch­land kei­ne Sta­tis­ti­ken dar­über exis­tier­ten, wie vie­le Obdach­lo­se und wie vie­le Rei­che es gebe.

Bp Dioezesanrat 01

But­ter­weg­ges düs­te­re Pro­gno­se: Die rela­ti­ve Armut wird bei uns mehr umschla­gen in die abso­lu­te Armut“, vor allem ver­ur­sacht durch hor­ren­de Miet­stei­ge­run­gen, die vor­ran­gig älte­re Men­schen tref­fe. Als Bei­spiel für Alters­ar­mut beschrieb er eine alte Frau aus Mün­chen, die abends in ihrer Woh­nung im Dun­keln sit­ze, um Strom zu spa­ren, und nur mit einem Glas war­mer Milch in der Hand, weil ihre Mut­ter ein­mal gesagt habe, dank war­mer Milch spü­re man den Hun­ger nicht. Und das in einer Stadt, wo mit­un­ter Per­so­nen leb­ten, die zu den reichs­ten Deut­schen gehö­ren, ergänz­te der Pro­fes­sor. Er kri­ti­sier­te die Scheu in der Poli­tik vor dem Begriff Ein­kom­mens­ar­mut“ und sprach von einem igno­ran­ten Umgang damit. Durch das Zusam­men­bal­len von Mil­li­ar­den-Ver­mö­gen auf ein­zel­ne Men­schen feh­le Geld an vie­len Ecken und Enden, und die Ungleich­heit wach­se immer mehr. Als eine Wur­zel des Übels mach­te der Pro­fes­sor die pre­kä­re Bezah­lung von Arbeit durch Unter­neh­mer aus. Nied­ri­ge Löh­ne sind gleich­be­deu­tend mit hohem Gewinn“, unter­strich But­ter­weg­ge, der auch Kam­pa­gnen wie die Ries­ter-Ren­te in Fra­ge stell­te, weil sich die­se Form der pri­va­ten Alters­vor­sor­ge kaum jemand leis­ten kön­ne. Auch die Bör­sen­ren­te, wie er die aktu­el­len Plä­ne von Finanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lind­ner nann­te, sei kei­ne brauch­ba­re Altersversorgung.

Bun­des­kanz­ler Wil­ly Brandt in den 1970er-Jah­ren sei noch ein wirk­li­cher Sozi­al­de­mo­krat“ gewe­sen, flocht der Refe­rent ein und gab zu beden­ken, dass es heut­zu­ta­ge in vie­len ande­ren Län­dern ein höhe­res Ren­ten­ni­veau gebe als in der Bun­des­re­pu­blik. Wir kön­nen längst nicht mehr stolz sein auf den deut­schen Sozi­al­staat“, sag­te But­ter­weg­ge in sei­nem rund 45-minü­ti­gen Vortrag.

Zur Ände­rung die­ses Zustands emp­fahl der Gast­red­ner unter ande­rem die Abkehr von einer Steu­er­po­li­tik, die bei­spiels­wei­se durch den­sel­ben Mehr­wert­steu­er­satz für alle Zah­lungs­pflich­ti­gen am meis­ten die Rei­chen begüns­ti­ge, was zu einer Spal­tung der Gesell­schaft durch mate­ri­el­le Ungleich­heit füh­re. Vor die­sem Hin­ter­grund wun­de­re ihn der Stim­men­zu­wachs der AfD nicht, die sich frei­lich die Par­tei der klei­nen Leu­te“ nen­ne, in Wirk­lich­keit aber die Par­tei des gro­ßen Gel­des“ sei. Stark mach­te sich But­ter­weg­ge für eine Rück­kehr der Unter­neh­men zur Tarif­bin­dung, aber auch für ein Ver­bot von Leih­ar­beit. Man müs­se den Sozi­al­staat so aus­bau­en, dass alle mit ein­be­zo­gen sind“, hob er her­vor und ver­teu­fel­te zugleich die feh­len­de Ein­he­bung von Ver­mö­gens­steu­er, obwohl die­se immer noch exis­tent sei. Kein ein­zi­ges Unter­neh­men in Deutsch­land sei wegen der Ent­rich­tung der Erb­schafts­steu­er insol­vent gewor­den, merk­te der Armuts­for­scher ergän­zend an. Sein Fazit: Wer Armut wirk­sam bekämp­fen will, der muss den Reich­tum antasten.“

Zu Beginn der Dis­kus­si­on führ­te die KAB-Diö­ze­san­vor­sit­zen­de Ange­li­ka Gör­mil­ler eben­so den Aspekt Armut als Man­gel an sozia­ler Teil­ha­be ins Feld. Prof. But­ter­weg­ge stell­te fest, Reich­tum an sich als nichts Ver­werf­li­ches zu wer­ten, aber ihn als pro­ble­ma­tisch zu emp­fin­den, wenn sich gleich­zei­tig Armut immer mehr aus­brei­te. Als kri­tisch stuf­te er ein, dass das Adjek­tiv im Begriff der Sozia­len Markt­wirt­schaft nicht wirk­lich ernst genom­men wer­de. Ich will eine Gesell­schaft haben, in der ande­re nicht Not lei­den oder aus­ge­grenzt wer­den, eine Gesell­schaft ohne Neid und Miss­gunst“, for­mu­lier­te der Pro­fes­sor als sei­nen Zukunfts­wunsch, ein­her­ge­hend mit einer bes­ser ent­wi­ckel­ten Sozial‑, Bil­dungs- und Betreu­ungs­struk­tur. Und dafür braucht es Geld“, kon­sta­tier­te But­ter­weg­ge, der den Medi­en vor­warf, Reich­tum zu ver­schlei­ern und nicht kri­tisch dar­über zu berich­ten. Zugleich hielt der Refe­rent, der der Par­tei Die Lin­ke nahe­steht und sich für sie 2017 um das Amt des Bun­des­prä­si­den­ten bewor­ben hat, ein Plä­doy­er für mehr Abrüs­tung statt des stän­di­gen Wettrüstens“.

Bemer­kens­wert waren die The­sen aus den Schreib­ge­sprä­chen an Stell­wän­den. Dort stand unter ande­rem geschrie­ben, dass die Kir­che in Fra­gen zur Armut lau­ter auf­tre­ten“ müs­se, außer­dem der Appell, sich in der gesell­schaft­li­chen Debat­te stär­ker für die Armen ein­zu­set­zen, den Mar­kus Biber in sei­nem Schluss­wort teil­te. Man müs­se poli­tisch und gesell­schaft­lich mehr aktiv wer­den, als Christ ver­mehrt Anstoß zu einer posi­ti­ven Ver­än­de­rung geben – mit dem in der Andacht am Frei­tag­abend for­mu­lier­ten Ziel Lea­ve noo­ne behind.“ Dekan Jochen Wil­de bedank­te sich für die Gast­freund­schaft des Diö­ze­san­ra­tes bei der Ver­an­stal­tung im Spec­trum Kir­che. Wir ste­hen vor einem kirch­li­chen Kul­tur­wan­del“, pro­gnos­ti­zier­te er und skiz­zier­te es als das Ziel, eine part­ner­schaft­li­che Kir­che zu for­men, die den Men­schen in Lebens- und Glau­bens­fra­gen unter­stüt­zend zur Sei­te stehe.

Text+Fotos: Bern­hard Brunner

Erster Tag der Herbst-Vollversammlung

Zum Auf­takt sei­ner Herbst-Voll­ver­samm­lung besuch­te die Gre­mi­en­mit­glie­der des Diö­ze­san­rats tags zuvor am 11. Okto­ber gezielt ver­schie­de­ne Diens­te in Pas­sau, wo Mit­ar­bei­ten­de von ihrer Arbeit mit Betrof­fe­nen berich­te­ten — u.a. die Bahn­hofs­mis­si­on, die Pas­sau­er Tafel und die Obdach­lo­sen-Her­ber­ge im Kon­ra­dinum der Cari­tas. Einen aus­führ­li­chen Bericht mit Impres­sio­nen fin­den Sie hier:

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Bistum
12.10.2024

"...das habt ihr mir getan! - Arme.Reiche.Kirche."

Der Passauer Diözesanrat nahm zum Auftakt seiner Herbst-Vollversammlung das Thema Armut in den Blick.

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