Es wird auch im Bistum Passau eine Studie geben, die das Missbrauchsgeschehen im Bistum Passau umfassend in den Blick nimmt. Das gibt die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen im Bistum Passau, die von Bischof Stefan Oster zu Beginn des Jahres 2021 einberufen wurde und die im April 2021 ihre Arbeit aufgenommen hat, nun bekannt.
Die Studie trägt den Titel „Sexueller Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen durch katholische Kleriker im Bistum Passau 1945 – 2020. Ausmaß und Umstände – Reaktionen und Handhabung seitens Kirche, Öffentlichkeit und sozialem Umfeld der Betroffenen“.
Das Vorhaben soll als Drittmittelprojekt an der Universität Passau angesiedelt und ebendort am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte unter der hauptverantwortlichen Leitung von Prof. Dr. Hans-Christof Kraus durchgeführt werden. Ihre Gesamtlaufzeit ist auf maximal drei Jahre festgelegt. Die Kosten sind auf 610 000 Euro veranschlagt. Wissenschaftlicher Leiter ist Prof. Dr. Marc von Knorring, Außerplanmäßiger Professor am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte. Zwei weitere Vollzeitstellen stehen ihm zur Verfügung. Der Vertrag zwischen Bistum, Universität und Aufarbeitungskommission steht kurz vor der Unterzeichnung. Start des Forschungsvorhabens soll der 1. Juli 2022 sein.
Grundlage des Beschlusses der Kommission waren intensive Diskussionen von Erkenntnissen vorliegender Studien, hier vor allem solche der MHG-Studie und des Gutachtens der Kanzlei WSW für das Erzbistum München und Freising. Auch in Passau wird bereits an den notwendigen Konsequenzen daraus gearbeitet. Die Kommission steht darüber im Dialog mit dem Bischof, von dem sie die aus ihrer Sicht notwendigen Reformen an Haupt und Gliedern einfordert. Mit ihrer Studie sucht die Passauer Kommission dem Auftrag zur quantitativen und qualitativen Aufarbeitung gerecht zu werden, wie er in der „Gemeinsamen Erklärung“ der Deutschen Bischofskonferenz und des Unabhängigen Beauftragen der Bunderegierung vom 28. April 2020 formuliert wurde. Die Studie strebt eine vollständige Erschließung der ca. 3500 Personalakten und anderer Aktenbestände des Bistums an, um eine wissenschaftlich zuverlässige Erschließung des Missbrauchsgeschehens im Zeitraum zunächst ab 1945 zu leisten. Gleich wichtig wie die Erhebung von Tätern, Taten und betroffenen Opfern soll auch der administrative Umgang verantwortlicher Personen vor dem Hintergrund kirchlich-systemischer Strukturen geleistet werden.
Die Studie wird hier anschließen an Erkenntnisse der MHG-Studie, die den autoritär-hierarchischen Klerikalismus, das Verständnis des Priesteramtes, die rigide katholische Sexualmoral und nicht zuletzt den Pflichtzölibat als wichtige Bedingungs- und Ermöglichungsstrukturen nennt. Es sind dies aber auch Ansatzpunkte für die zukünftige Präventionsarbeit, für die die Studie ebenso wichtige Konzepte und Methoden vorbereiten soll. Vor allem für die Priesterausbildung, aber auch für die pastorale Gemeinde- und Jugendarbeit sowie die Fort- und Weiterbildung haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter*innen in den verschiedensten kirchlichen Einrichtungen, Verbänden und Vereinen sollen von der Studie Anstöße erarbeitet werden. Bei allen Aspekten der Studie sind die Interessen der Betroffenen Ausgangspunkt und Zielperspektive der gesamten Studie. Der im Oktober 2021 gegründete unabhängige Betroffenenbeirat des Bistums erteilte deshalb seinerseits der Studie seine Zustimmung.
Prof. Dr. Marc von Knorring (geboren 1971 in Aurich), der seit 2008 in Passau wirkt und dessen Forschungsschwerpunkte im 19./20. bzw. 16./17. Jahrhundert angesiedelt sind, umreißt sein Vorhaben zusammenfassend wie folgt:
„Das Forschungsprojekt strebt zunächst eine zahlenmäßige Erhebung der Missbrauchsfälle an, die Aufschluss über deren Dimension sowie etwa über „typische“ Beteiligte und Tatkontexte im Wandel der Zeit geben soll. Schwerpunktmäßig zielt es dann auf die Herausarbeitung von Nährböden und Ermöglichungsfaktoren für den Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen durch Geistliche ab, wobei neben den innerkirchlichen Strukturen besonders das soziale Umfeld der Betroffenen und seine Rolle beim Vertuschen oder Verschweigen der Taten beleuchtet werden soll. Diese Kombination von quantitativer und qualitativer Untersuchung mit ihren speziellen Schwerpunktsetzungen hebt die geplante Passauer Langzeitstudie in Anlehnung an die Studie des Bistums Münster deutlich von anderen ab. Dabei geht es jedoch nicht nur um Aufklärung über vergangene Geschehnisse und ihre Ursachen, vielmehr sind zugleich wichtige Hinweise für die Ausrichtung zukünftiger Präventionsarbeit zu erwarten.“
Parallel zur anlaufenden Studie werden Aufarbeitungskommission und Betroffenenbeirat über alle Aspekte von zurückliegenden aber auch möglicherweise fortbestehenden Ursachen und zukünftiger Prävention mit dem Bischof, der Leitung und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Dialog und die Kooperation suchen. Denn das allseits erklärte Ziel ist es, dem Missbrauch in der Kirche den Garaus zu machen. Und wenn kirchliche Strukturen ihn begünstigen, können sie schwerlich gottgeben sein und bedürfen der Reform.
Bischof Dr. Stefan Oster, der die Zustimmung der Bistumsgremien eingeholt hat, gab der Kommission grünes Licht für die Studie und der Sicherstellung ihrer Finanzierung. Er betont: „Das Domkapitel, der Ordinariatsrat und der Diözesanvermögensverwaltungsrat stehen einhellig hinter dem Projekt, so wie es die Aufarbeitungskommission vorgelegt hat. Ich selbst natürlich auch. Wir wollen und brauchen ein möglichst genaues Bild des Geschehens in der beschriebenen Zeit — um der Betroffenen willen, um der Gläubigen willen und um zu lernen, wie wir als Kirche insgesamt Missbrauch möglichst vermeiden können. Die Erkenntnisse werden sicher schmerzhaft sein — weil wir sehen werden, welches Leid den Betroffenen zugefügt wurde — und wer die Taten gedeckt und somit direkt oder indirekt mit ermöglicht hat. Aber ich hoffe, es wird für die ganze Kirche von Passau am Ende reinigend sein.“
Der unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen im Bistum Passau gehören sieben Mitglieder an. Dies sind:
- Udo Holy (als Vertreter der Betroffenen)
- Dr. Martin Linder (Kinder- und Jugendpsychiater; ehem. Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie Bezirksklinikum der Oberpfalz / Regensburg
- Dipl.-Soz.Päd. Michaela Müller (Beratungsstelle Frauen helfen Frauen in Burghausen)
- Prof. emer. Dr. Guido Pollak (ehemals Lehrstuhl für Allgemeine an der Pädagogik Universität Passau, Vorsitzender der Kommission)
- Dr. Stefan Rammer (Historiker, Publizist und Journalist)
- Josef Rückl (Polizeidirektor i.R.)
- Michael Steindorfner (Ministerialdirektor a.D.; als Vertreter der Betroffenen)
Ständige Gäste sind:
- Herr Wolfgang Beier (Richter a.D.; Unabhängige Ansprechperson bei Verdachtsfällen im Bistum Passau)
- Frau OR Antonia Murr (Kanzlerin und Justiziarin des Bistum Passau; Interventionsbeauftragte des Bistums)
- Frau Bettina Sturm (Präventionsbeauftragte des Bistums Passau)
- Frau Rosemarie Weber (RAin; Unabhängige Ansprechperson bei Verdachtsfällen im Bistum Passau)