Papst Franziskus ist nach Hause gegangen, der Vater („Papa“) der Kirche, geht zum Ewigen Vater der Kirche. Was für ein Papst! Als er gewählt wurde, war er 76 Jahre alt. Mancher sagte: „Ein Übergangspapst“. Heute sage ich: Ein Papst, der die Kirche in eine neue Zeit geführt hat – und Veränderungen angestoßen hat, deren Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Ein Papst, der einen neuen Stil des Papstamtes geprägt hat. Sein gewählter Name war ihm Programm: Franziskus! Er stellt die Armen in die Mitte, die Geflüchteten, die Verfolgten, die vom Klimawandel Bedrohten, die Kranken, die Behinderten, die Einfachen. Und er lebt selbst einen einfachen Lebensstil. Die Wahl der Wohnung, des Autos, die Kleidung, der persönliche Umgang mit anderen – bestimmt von echter Schlichtheit und lockerer Herzlichkeit. Klerikalismus in der Form einer spirituell angestrichenen Weltlichkeit unter priesterlichen Mitbrüdern war ihm ein Gräuel – und nach seiner Einschätzung eine der Hauptursachen für manch korrupten Zustand unserer Kirche.
Ich durfte ihm einige Male persönlich begegnen – und war immer neu beeindruckt von seiner sich zurücknehmenden Präsenz, seiner Brüderlichkeit, seinem Humor. Auch im hohen Alter noch hatte er mir nie den Eindruck gegeben, er sei nicht bei der Sache, er sei nicht wach im Gespräch. Im Gegenteil. Und obwohl ich einer von mehreren tausend Bischöfen bin, zumal in einer kleinen Diözese, wusste er erstaunlicherweise immer ein persönliches Wort. „Bete für mich in Altötting“, war sein wiederholter Abschiedsgruß. Uns einzelne Vertreter der Kirche in Deutschland hat er immer mit großem Wohlwollen begrüßt, auch dankbar darum wissend, wieviel bei uns vor allem durch die Hilfswerke für die Kirche in der Welt getan wird. Gleichzeitig gab es in ihm auch Skepsis darüber, wie wir in unserem Land katholische Kirche sind – als eine reiche Kirche mit großem Apparat und einem Verständnis von Synodalität, an das er seine Fragen hatte. Was Synodalität für ihn war, darin durfte ich eine Art „persönliche Anleitung“ durch ihn erleben, da ich einer der Bischöfe war, die er selbst zur Weltbischofssynode über Synodalität eingeladen hatte. Über Wochen haben wir uns – meist auch in seiner Anwesenheit — im Zuhören geübt, im Hören auf Gottes Geist, im Hören aufeinander. Synodal Kirche-sein heißt: Gemeinsam gehen, gemeinsam unterwegs sein, in Ehrlichkeit und Transparenz, und mit der Beteiligung möglichst aller – gerade auch mit denen, die anders denken als ich selbst.
Sein erster eigener großer Text als Papst war das Schreiben „Evangelii gaudium“ – ein programmatischer Auftakt seines Pontifikats. Der erste Satz lautet: „Die Freude des Evangeliums erfüllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen.“ Jesus begegnen, sich von ihm berühren, retten, heilen lassen – das stand für ihn in der Mitte aller Verkündigung. Besonders der barmherzige Jesus soll in der Kirche von heute und morgen verkündet werden – in Wort und Tat. Dieser Akzent sollte bald in das große „Jahr der Barmherzigkeit“ münden. Die Kirche sei „ein Feldlazarett“, die Eucharistie keine „Belohnung für die Starken, sondern Medizin für die Schwachen“, eine „verbeulte Kirche“ sei ihm lieber als eine, die nur schön anzusehen, aber letztlich lieblos, steril ist. Das waren und sind Bilder, die bleiben. Immer und immer wieder aber: Jesus verkündigen, zur Freundschaft mit Jesus einladen; Menschen helfen, ihm zu begegnen. Die innerkuriale Reform in Rom führte dann auch dazu, dass die erste und wichtigste Behörde (Dikasterium) fortan nicht mehr diejenige für die Glaubenslehre ist, sondern diejenige für die Evangelisierung.
Der Jesuit Franziskus wollte Prozesse anstoßen: „die Zeit ist wichtiger als der Raum“ hat er dazu geschrieben – und in der Kirche hat er damit eine Freiheit des Gesprächs ermöglicht, die in dieser Weise vorher kaum gekannt war. Freilich soll es ein Gespräch sein, in dem die ganze Kirche die „geistliche Unterscheidung“ lernt und einübt – also viel weniger in politischen Kategorien um Mehrheiten oder Minderheiten denkt und agiert, oder um konservative oder liberale Positionen, sondern immer danach sucht, was der Geist der Kirche und den Gläubigen sagt. Und zwar allen: den Bischöfen und den Laien, den Priestern und den Armen, den Jungen und Alten, den Frauen und Männern der Kirche und darüber hinaus. Auch sein eigenes Gespräch mit seinen Anstößen ging weit über innerkatholische Begegnungen hinaus: Die Ökumene, das interreligiöse Gespräch, die weltweite Verantwortung aller für das „gemeinsame Haus“ und den Frieden in der Welt waren ihm Herzensanliegen, die beiden großen Enzykliken „Laudato si“ und „Fratelli tutti“ stehen exemplarisch für diese Bemühungen.
Die Kirche, so Franziskus, dürfe nicht um sich selbst kreisen, sondern müsse „an die Ränder“ gehen, so ein immer wieder wiederholtes Wort, das er ebenfalls selbst beherzigte. Seine Auslandsreisen führten bevorzugt eher nicht in privilegierte Länder des Westens, sondern eher in krisengeschüttelte oder in solche, in denen Christen in deutlicher Minderheit sind. Auf seiner Reiseliste der letzten Jahre finden sich beispielsweise Myanmar, Bangladesch, Ägypten, Marokko, Mosambik, Madagaskar, der Irak, Kasachstan oder Kongo. Und die Christen aus solchen Ländern wollte er folgerichtig auch immer wieder in die Mitte stellen. Nicht wenige Kardinalsernennungen durch Franziskus erfolgten oft völlig überraschend und gegen bisher übliche Gepflogenheiten nicht für traditionsreiche Bischofssitze, sondern für Bischöfe und sogar einen Weihbischof „von den Rändern“. Papst Franziskus, der nach eigenen Worten „vom Ende der Welt“ nach Rom gekommen war, rückte die Enden der Welt in die Mitte und macht seine Kirche damit noch mehr zur Weltkirche.
Die Familie und die jungen Menschen waren ihm Herzensanliegen – und die zwei Bischofssynoden dazu ließ er beginnen mit Umfragen aus allen Diözesen der Welt: „Wie denkt das Volk Gottes zu den relevanten Fragen über Familie und junge Menschen?“ „Amoris laetitia“ und „Christus vivit“ heißen die nachsynodalen Schreiben zu den beiden Themen, in denen Franziskus einen unverkennbaren Sprachstil pflegt, nah beim Leben und mit Ausdrucksformen, die die Menschen verstehen – und trotzdem erfüllt von geistlicher Tiefe, nah bei Jesus. Als Salesianer Don Boscos hat mich seine herzliche Nähe zu den jungen Menschen immer besonders berührt. Die Weltjugendtage mit ihm waren für zahllose Jugendliche tief berührend und nicht selten lebensverändernd. Seine letzte Enzyklika, die er uns geschenkt hat, war ein Schreiben über das Herz Jesu – und über das so große Geheimnis des Herzens von uns Menschen. „Dilexit nos“ heißt das Schreiben: „ER hat uns geliebt“ – Das war der unverbrüchliche Glaube seines Lebens: Christus hat uns zuerst geliebt. Ein Text als Vermächtnis, der immer neu verdient meditiert zu werden.
War Franziskus ein Reformer? Ohne Frage. War er ein Konservativer? Was immer das in diesem Kontext meint! Der Papst ist Prinzip der Einheit, der Einheit im Glauben des Gottesvolkes – und in diesem Sinn war es ihm Aufgabe, den Glauben der Kirche auch zu wahren – und ihn in neuer Zeit in neuer Sprache zu sagen und zu leben. Das hat er in meiner Einschätzung getan. Dass er dabei bisweilen irritiert hat, dass er bisweilen gerade in Interviews Dinge offen gelassen hat, manchmal die von streng systematisch denkenden Theologen gewünschte Präzision hat vermissen lassen, liegt wohl daran, dass er Prozesse anstoßen und auf den Weg bringen und sehen wollte, wohin der Geist die Kirche führt.
Einer seiner schönsten Texte heißt: „Gaudete et exsultate“. Darin geht es um Heiligkeit, vor allem um die Heiligkeit im alltäglichen Leben – um eine Berufung für jeden Christen und jede Christin, die mit Jesus leben will. Bei allem Engagement hinein in die sozialen, ökologischen und politischen Welten hinein, hat Franziskus aus meiner Sicht diese innere Mitte des Glaubens nie aus dem Blick verloren, sondern im Gegenteil – immer bewahrt. In meinen persönlichen Treffen mit ihm habe ich ihn immer als einen Mann im inneren Frieden angetroffen, ohne Angst vor dem, was kommt; als einen Mann, der selbst auch zu diesem Frieden und dieser Furchtlosigkeit ermutigt hat: „Hab Vertrauen und geh im Frieden weiter. Das wichtigste in Deinem Leben“, hat er einmal zu mir gesagt, „ist Dein salesianisches Herz und die Nähe zu den Menschen. Und bleib demütig, sonst holt Dich der Teufel.“ Das war Franziskus in seiner Nähe und mit seinem großen Herzen! Und wenn die Furchtlosigkeit nach 1 Joh 4,18 ein Kennzeichen der „vollkommenen Liebe“ ist, dann hatten wir in ihm womöglich einen heiligen Mann unter uns, der jetzt umso inniger beim Vater für seine Kirche eintreten kann. Lieber, verehrter Papa Francesco, lebe in Frieden.
Bischof Dr. Stefan Oster SDB