"Habt Geduld und lasst beides, Weizen und Unkraut, wachsen bis zur Ernte." So mahnt uns Jesus zur Vorsicht, das Unkraut nicht sofort auszureißen. Warum eigentlich? Das beantwortet Dr. Bernhard Kirchgessner, Leiter des Exerzitien- und Bildungshauses Spectrum Kirche Passau, in seiner Predigt zum 16. Sonntag im kirchlichen Jahreskreis am 19. Juli 2020.
Leben wie ER, denken wir ER, lieben wie ER
Gleichnisse werden uns an diesen Sonntagen in der Liturgie vorgetragen. Heute das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Das Himmelreich wird mit einem Mann verglichen, der guten Samen ausstreut und erleben muss, wie des Nachts sein Feind Unkraut unter den Weizen mischt. Zuerst bemerkt das keiner; doch als der gute Samen aufgeht, zeigt sich auch das Unkraut. Die gärtnerische Logik geböte nun, das Unkraut auszureißen, doch Jesus mahnt zur Vorsicht: „Lasst beides wachsen bis zur Ernte.“ Warum eigentlich?
Jesus selbst deutet dieses Gleichnis: Der Sämann ist der Menschensohn, er selbst. Der Acker ist die Welt. Klar, dass er nur guten Samen ausstreut, die Kinder des Lichtes. Doch längst nicht alle folgen ihm. Damals nicht und heute schon gar nicht. Es gibt halt auch die Kinder der Finsternis, die Kinder des Bösen. Sollte man da nicht sogleich eingreifen und klare Verhältnisse schaffen? Ich gebe zu, das wäre meine Handlungsweise. Doch Jesus bremst uns ein. Habt Geduld! „Lasst beides wachsen bis zur Ernte.“ Ertragt das Böse und die Bösen überlasst die Scheidung von Gut und Böse einem anderen, der nicht nach irdischen Maßstäben handelt. Wenn dann die Zeit der Ernte da ist, wird der Sämann den Schnittern auftragen, das Unkraut zu jäten, zu sammeln und zu verbrennen.
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Man kann diese Deutung noch präzisieren: Wenn der Acker für die Welt steht, dann ist die Zeit der Saat und des Wachstums die Zeit der Kirche. In ihr gibt es nicht nur Gute, Fromme, Heiligmäßige, sondern auch Unglauben und Unglaubliches wie Missbrauch, Machtgerangel, Karrierestreben und Vieles mehr. Es menschelt in ihr. Mitunter so sehr, dass sie zum Stein des Anstoßes wird und man gute Lust bekommt, das Unkraut auf der Stelle auszureißen. Was habe ich mich im Lock-down geärgert, dass einige Pfarrer einfach auf Tauchstation gegangen sind und am 2. Fastensonntag an der Kirchentüre und im Schaukasten eine Notiz aufgehängt haben: Bis auf weiteres geschlossen. Fortan waren sie nicht mehr gesehen! Ehrlich, ich war richtig wütend. Da ist die Herde in Not und der Hirte geht als Erster stiften. Das wird später nochmals zu besprechen sein.
Wenn es im Acker der Welt Unkraut gibt, die Kinder des Bösen, hat die Kirche die Aufgabe, ihnen nachzugehen und sie wie verlorene Schafe in die Gemeinschaft zurückzuholen. M.a.W.: Kirche ist stets Kirche für die Sünder und Kirche der Sünder. Das soll nichts Menschliches, schon gar nichts Böses rechtfertigen, doch verdeutlichen, dass Kirche stets ecclesia semper reformanda ist, Kirche, die sich selbst immer wieder erneuern und an Christus Maß nehmen muss.
Die Pandemie hat die Frage aufgeworfen, ob Kirche noch systemrelevant sei: Die Antwort der Kirche war mir zu schwammig. Jetzt gilt es, den Blick ganz auf den zu lenken, dem sich die Kirche verdankt: auf Jesus von Nazareth. Kirche – allen voran wir Hirten – sollte leben wie er, denken wie er und vor allem lieben wie er.
Wenn uns dies auch nur ansatzweise gelänge, wäre das Unkraut für den Weizen keine Bedrohung, ja, dann könnte zuweilen selbst aus Unkraut Weizen werden.
Msgr. Dr. Bernhard Kirchgessner (Leiter Exerzitien- und Bildungshaus Spectrum Kirche Passau)