Zum "Sonntag des Guten Hirten", dem 4. Ostersonntag am 25. April 2021, thematisiert Domkapitular Dr. Anton Spreitzer in seiner Predigt zum die sog. "Hirtenrede" aus dem Johannesevangelium. Jesus sagt darin den berühmten Satz: "Ich bin der gute Hirte; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich."
Der 4. Ostersonntag ist der „Sonntag des Guten Hirten“. Jedes Jahr wird nämlich ein Abschnitt aus dem 10. Kapitel des Johannesevangeliums, der sog. „Hirtenrede“ im Gottesdienst verkündigt.
Das Bild des Hirten ist ein traditionelles Bild, das uns zwar nicht mehr unbedingt im Alltag begegnet, uns aber dennoch vertraut ist. Es ist ein „Ur-Bild“, das Jesus hier verwendet. Es ruft das idyllische Bild des Hirten ins Bewusstsein, der mit seinen Schafen über die Felder zieht; doch diese Gruppe ist verletzbar und Gefahren ausgesetzt: Sie verschanzt sich nicht; nur die Gegenwart des Hirten gewährleistet, dass die Gemeinschaft nicht zerfällt oder auseinandergetrieben wird; ohne ihn wird die Herde zur losen Ansammlung einzelner Schafe, die miteinander nichts zu tun haben.
Jesus ist für die Gläubigen dieser Hirte. Er sagt: „Ich bin der gute Hirte; ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“
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Die tiefen Worte der „Hirtenrede“ führen in die Tiefen unserer Beziehung zu Jesus. Er verbindet mit dem Bild des „guten Hirten“ das Sich-Kennen, das Einander-vertraut-Sein, das Einander-vertrauen und das Sich-Aufeinander-Verlassen. „Kennen“ aber heißt nicht: den anderen vollkommen durchschauen, alles über sie oder ihn wissen. Denn das würde bedeuten: den anderen vollkommen besitzen, den anderen in meiner Macht haben, ihn oder sie verzwecken oder gar verbrauchen. In so einer Beziehung ist kein Platz für Liebe, weil dem anderen die Freiheit genommen ist. Ohne Freiheit aber ist Liebe nur ein Wort. „Kennen“ meint bei Jesus einen Vorgang, eine Entwicklung: ein dauerndes Sich-besser-Kennenlernen, ein Immer-besser-Vertraut-werden; es meint eine immer tiefer werdende Liebe. Eben das geschieht im gemeinsamen Unterwegssein mit dem Hirten, im Bleiben in seiner Nähe und in der Nähe der anderen. Es braucht die Gegenwart des und der anderen – und das Bewusstsein, dass ohne einander kein Bestand sein kann. Jeder ist auf das „Bleiben“ des und der anderen angewiesen.
Wir sind also in Freiheit auf der Suche – auf der Suche nach unseren Nächsten, und auf der Suche nach Gott. Das ist ein urbiblischer Gedanke. Auch wenn der andere da ist, auch wenn ich Jesus, wenn ich Gott bei mir weiß, höre ich nicht auf, nach ihm zu suchen. „Kennen“ meint deshalb den Zusammenhang: „Lieben“ – „Bleiben“ – „Suchen“. Das ist Beziehung im Sinne des Guten Hirten Jesus Christus.
Der heilige Augustinus hat das in ein schönes Wort gefasst. Er schreibt: „Wenn einer geliebt wird, dann erfragt man ihn auch dann, wenn er anwesend ist, weil eine unaufhörliche Liebe sich darum müht, dass er nicht abwesend werde. Wenn darum einer einen anderen liebt, will er, auch wenn er ihn sieht, ihn ohne Überdruss immer vor sich haben; das heißt: er sucht, dass er immer gegenwärtig sei. […] Das Finden macht diesem Hineinfragen, das die Liebe kennzeichnet, kein Ende; sondern mit wachsender Liebe wächst auch das Hineinfragen in den Geliebten.“
Ich wünsche Ihnen, dass das Bild vom Guten Hirten für Sie Anlass sein kann, sich Gott und dem Nächsten immer mehr in diesem Sinn zu nähern: hineinzufragen in den Geliebten.
Anton Spreitzer
Domkapitular